Ein ganz normaler Tag

Special day am Dienstag. Der Bruder soll in der Uniklinik vorgestellt werden mit dem seit Jahren offenen Knie. Bedeutet: Krankenwagen fährt mit Bruder und Vater zur Uni. 9 Uhr für mich offizieller Coronatest. 11 Uhr zur Klinik. Warten auf den Krankenwagen, schon mal alles anmelden. Sie kommen. Vater total erschöpft, er hat nicht damit gerechnet, dass die Uni Würzburg lange Gänge hat. Mit 88 ist das too much, er ist aufgeregt, was jetzt wieder kommt. Anmeldung und die Botschaft – wir müssen jetzt da hin, wo der Krankenwagen vorher gehalten hat. Sprich: Der Vater muss die gesamte Strecke nochmal laufen, mit Köfferchen, Mänteln, Rollstuhl etc. ein Akt. Nächste Anmeldung. Warten. Termin 12 Uhr. Der Vater darf nicht mit, ihn parken wir nervös auf der Fensterbank im Flur und hoffen, dass er dort bleibt. Er ist ungeduldig, das führt gern zu Wanderungen und die Klinik ist groß. Aus dem Wartezimmer kann ich ihn nicht sehen. Ungünstig.

13.30 Uhr. Neben den Gesprächen im Wartezimmer, dem Fernseher, dem Rauslaufen, ob der Vater noch auf der Fensterbank sitzt, hören wir eine Durchsage, die könnte uns meinen. Wir fahren mit unserem Mantel- und Kofferberg in den Untersuchungsraum und dürfen den Vater dazu holen, weil er der Hauptbetreuer ist. Er keucht heran. Der Arzt schneidet den Verband auf und sagt: „Das ist nicht meine Baustelle. Da sind Sie bei mir ja total falsch.“ Jo. Ein guter Anfang. Er klebt das Knie wieder zu und meint, dass ein plastischer Chirurg richtig wäre, er piepst einen an. Ich frage, wo ich meinen Bruder wickeln kann. 140 Kilo Querschnittlähmung kann man nicht im Frauenklo auf der Babywickelanlage wickeln. Wir bekommen einen Untersuchungsraum auf der anderen Seite. Wickeln. Füttern, als Diabetiker muss er was essen. Die Zuckermedikamente liegen 55 km daheim in der Küche und ich muss beim Essengeben überlegen, was ich mache. Der Vater fragt, warum es kein Essen gibt im Krankenhaus. Ambulanz ist nicht stationär. Gut, dass ich ausgerüstet bin. In meinem Klinikrucksack ist Zeug, damit kämen wir Tage klar. Inklusive Windeln, Reserveklamotten und Wolldecke, die nötig ist. Man schleppt ja sonst nur den Rollstuhl, den Koffer, Wasserflaschen …

Der plastische Chirurg kommt direkt aus dem OP. Er schaut, untersucht, überlegt. Er teilt die Optionen mit und man sieht – der Mann hat sich da jetzt gerade echt super Gedanken gemacht. Bei einem Gelähmten einen Muskel hochziehen, um die Wunde zu vernähen, eröffnet eine zweite Wunde, in die Keime dringen können. Das Knie ist zwar schlimm, aber eher safe, konventionell weitermachen wie bisher macht durchaus Sinn. Resultat also: Alles bleibt, wie es ist. Ich wuchte den Bruder von der Untersuchungsliege in den Rollstuhl. Raus in den Flur, Krankenwagen anfragen. 16 Uhr. Die Krankenwagenbesatzung kommt. Versuch, den Bruder vom Klinikrollstuhl in den Sitzstuhl zu hieven. Der Bruder ist erschöpft vom Tag, er hatte stundenlang massive Angst, was bei zahllosen OPs und gefühlt Jahren im Krankenhaus verständlich ist. Er schafft es nicht. Vier Mann helfen, er ist drin im Wagen. Angurten und ab. Die Herren fahren nach Hause, fix und fertig. Der Vater fragt: „Was machen wir jetzt?“ Die Antwort: „Nix, so weiter wie bisher!“

Ich suche mein Auto im Parkhaus und quäle mich durch den Feierabendverkehr. Kurz was essen. Mein Arbeitstag beginnt heute eben um 18 Uhr. Ohne meinen Einsatz wäre das dem Vater nicht machbar gewesen mit Wickeln, die Arztgespräche, wo er überhaupt hinmuss. Für 15 Minuten 8 Stunden Aufwand, Fahrt- und Wartezeit. Alltag in Familien mit Menschen, die Unterstützung brauchen. Als Angestellte hätte ich einen Urlaubstag verbraten. Als Selbstständige habe ich so etwas nicht. Alleine wären sie lost in space gewesen.

Heute wird ein normaler Pflegetag mit Wäschebergen, Putzen, Einkaufen, Rezepte organisieren für Windeln, Katheter und die richtigen Spritzaufsätze fürs Zuckermedikament (alles nicht lieferbar derzeit, wie schön). Mit Kochen und Versorgen für die nächsten Tage. Leben ist nicht immer das, was man sich vorgestellt hat. Die Realität kickt härter als die Vorstellung von „wenn ich groß bin …“. Dafür erhole ich mich beim Kursgeben am Nachmittag und am Wochenende. Das ist wie Ferienprogramm.

Allen einen kraftvollen Freitag und gute Nerven für alle anstehenden Aufgaben heute.

 

Ein guter Tag für den Bruder.

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