Author page: Christine Krokauer

Das menschliche Streben

Donnerstag

Das menschliche Streben. Man achte darauf, nichts zu tun, was außerhalb seiner Kräfte liegt, aber auch nichts zu unterlassen, was innerhalb derselben sich befindet.

Über das Alltägliche, Augenblickliche hinausblicken und sich Ziele (Ideale) stellen, die mit den höchsten Pflichten eines Menschen zusammenhängen, zum Beispiel deshalb im Sinne der angegebenen Übungen sich entwickeln wollen, um seinen Mitmenschen nachher umso mehr helfen und raten zu können, wenn vielleicht auch nicht gerade in der allernächsten Zukunft.

Man kann das Gesagte auch zusammenfassen in: „Alle vorangegangenen Übungen zur Gewohnheit werden lassen“.

Steffi hat diesen herrlichen doppelten Regenbogen für uns eingefangen.

Wider Unruhe und Hast

In der Mittwochsübung sind wir eingeladen, unser Leben einzurichten. Wie erstaunlich, oder? Wir richten Häuser und Arbeitsplätze, Computer oder Kinderzimmer ein, aber das Leben? Bereits das ist ein spannender Punkt. Rudolf Steiner ist der Meinung, dass man sein Leben einrichten sollte. Ich teile diese Meinung. Wir leben oft so in den Tag hinein ohne Sinn und Verstand, lassen Timelines verstreichen, weil wir angeblich nur unter maximalem Druck gut arbeiten können und bringen so Unruhe und Hast ins Leben.

Am Wochenende zitierte ich Beppo Straßenkehrer in einem Seminar, weil die Schüler Sorge trugen, mit der Menge an Lernstoff nicht klarzukommen. Ja. Wenn man alles auf einmal sieht, mag das schnell geschehen, doch wenn ich mir das „einrichte“, einen Plan aufstelle und genügend kluge Puffer berücksichtige, erarbeite ich mir im Lauf der Zeit auch den größten Berg, schaffe ich auch schwierige Aufgaben. Beppo Straßenkehrer in Michael Endes „Momo“ ist ein Meister „der Einrichtung“, denn „dann kommt man nicht aus der Puste“, vermeidet im Steiner-Sinne Unruhe und Hast.

Das Leben als einen Entwicklungsweg sehen – das hat ebenfalls was. Früher gab es Mysterienschulen. Die Mysten durchschritten jahrelang Trainingseinheiten. Sie übten sich in vielem, was den Willen schult, die Demut fördert. Sie hatten Hierophanten, die ihre Entwicklung begleiteten und stets die Messlatte entsprechend der Entwicklung des Lernenden höherlegten, so dass die Herausforderungen wuchsen und damit nach und nach Kraft aufgebaut wurde. Am Ende gab es eine letzte große Prüfung, in der der Myste maximal auf seine innere Stärke getestet wurde.

Joseph Beuys hat vor Jahren gesagt, heute fände die „Einweihung am Hauptbahnhof“ statt, sprich: unser Alltagsleben darf durchaus als ein Einweihungsprozess verstanden werden. Was übrigens bereits im Wort Prozess enthalten ist, denn procedere heißt voranschreiten, es impliziert bereits eine Richtung.

Nicht im äußeren Tand aufgehen – zu Steiners Zeiten gab es gerade mal Telefon und elektrisches Licht, die Industrie befand sich im Boom. Kein Internet. Keine Handys, kein Fernsehen. Wie viel äußeren Tand bietet unsere Welt! Schrott in jeder Form, geistiger Müll, seelische Überfrachtung bei körperlicher Inaktivität – langfristig Verdummung und Entfernung von allem Wesentlichen auf sämtlichen Ebenen, wenn man es nicht schafft, sich entsprechend Freiräume von all dem (medialen) Wahnsinn zu gönnen. Hand aufs Herz: wie oft verlieren wir uns im äußeren Tand? Wie häufig gönnen wir uns das, anstatt an unserer eigenen Entwicklung zu arbeiten?

Die Mittwoche, die mit Merkur (wie viele Sprachen noch zeigen übrigens) verbunden sind, dem beweglichsten der Götter, laden dazu ein, unser Leben einzurichten. Schaffen wir uns Ecken der Meditation, der Würde, der Werte, einen Tisch für Gemeinschaft, ein Lesezimmer, einen Raum für Bewegung, einen für Kunst und Musik, einen für geistige Arbeit und einen, in dem wir komplett Platz lassen für alles, was werden mag und in dem wir uns mit unseren Schatten befassen dürfen. Richten wir unser Leben ein und achten wir darauf, an diesem Tag wenig dem Tand anheimzufallen.

Allen einen bewegenden Merkurtag.

 

Sigrid hat sich von der Wertheimer Burgruine begeistern lassen. Dankeschön!

Dein Leben einrichten

Mittwoch

Die Einrichtung des Lebens. Natur- und geistgemäß leben, nicht im äußeren Tand des Lebens aufgehen. Alles vermeiden, was Unruhe und Hast ins Leben bringt.

Nichts überhasten, aber auch nicht träge sein. Das Leben als ein Mittel zur Arbeit, zur Höherentwicklung betrachten und demgemäß handeln.

Man spricht in dieser Beziehung auch vom „richtigen Standpunkt“.

Rudolf Steiner

Der Apfel ist ein Geschenk der Natur. Sigrid hat ihn fotografiert, vielen Dank.

Dem Wohl des Ganzen dienen

Steiners Anregung für den Dienstag, der von der Tatkraft des Mars gestützt wird, betrifft unsere Handlungen. Diese sollen dem Wohl des Ganzen, dem Glück, dem Ewigen standhalten können. Das ist eine große Nummer. Alles, was wir tun, darf sich an mächtigen Maßstäben messen lassen. Deshalb ist es sinnvoll, seine Handlungen vorab gut zu bedenken.

Natürlich gibt es Momente im Leben, da müssen wir ohne jedes Nachdenken reflexgesteuert agieren, um Schlimmes zu verhindern oder um etwas auszuweichen. Das ist auch nicht gemeint, sondern Steiner lädt uns dazu ein, alles, was wir tagsüber automatisch tun und wo wir durch unser mangelndes Bedenken anderen Menschen in Gedanken, Worten und Taten Schaden zufügen können, erst in Gedanken durchzugehen. Ähnlich wie Sokrates seine drei Siebe benannt hat – ist etwas wahr, gut und notwendig – gibt es eine Richtschnur für das Handeln: es soll dem Wohl des Ganzen dienen, dem Glück der Mitmenschen und vor der Ewigkeit Bestand haben.

Viele Menschen belegen für viel Geld Achtsamkeitskurse, dabei ist unser Alltag das allerbeste Übungsfeld. Wenn ich eine Karotte mit Aufmerksamkeit würfle und sie dann mit Liebe und Freude koche, wird das ein anderes Gericht sein, als wenn ich sie lieblos kleinschreddere und auf dem Herd einkochen lasse, denn alles, was durch liebevolle Hände geht, nimmt ein neues Wesen an. Wenn wir darauf bedacht sind, dem Wohl des Ganzen zu dienen, werden wir keine Handlungen unternehmen, die die Freiheit und das Wohlbefinden des anderen stören, welchem Naturreich – Mineralien, Pflanzen, Tiere und Mensch – er auch angehört. Handlungen, die zum Glück führen, sind von Liebe, Achtsamkeit und Freude geprägt, das gehört zu den stärkenden Taten. Wenn etwas vor der Ewigkeit Bestand haben soll, lautet die Einladung, all das viele sinnlose Tun unserer Tage zu überdenken und sein zu lassen.

Der Dienstag hat eine besondere Tatkraft. Deshalb können wir unser Augenmerk eher auf das Bedenken unseres Tuns legen. „Denke erst und handle dann und handelnd denk daran“ lautet eine Übung aus der Eurythmie. Sie könnte Pate stehen für Steiners Dienstagsanregung.

Herzliche Einladung an alle, heute bei allem, was wir einfach mal so aus dem Bauch raus tun würden, kurz inne zu halten und zu überlegen: dient es dem Gemeinwohl? Macht es mehr als nur mich glücklich? Ist es so wichtig, dass es von mir an diesem Tag getan werden muss? Habe ich es bedacht oder ist es eine meiner vielen kleinen unbedachten Handgriffe, die dadurch auch nicht in mein Bewusstsein eindringen (Klassiker: Ist das Bügeleisen aus, das Dachfenster zu?)?

Allen einen tatkräftigen Dienstag mit einem großartigen Auftrag hinter allem Handeln.

 

Michael bezwingt den Drachen am Hamburger Michel.

Denken und Handeln

Dienstag

Die äußeren Handlungen. Diese sollen nicht störend sein für unsere Mitmenschen. Wo man durch sein Inneres (Gewissen) veranlasst wird zu handeln, sorgfältig erwägen, wie man der Veranlassung für das Wohl des Ganzen, das dauernde Glück der Mitmenschen, das Ewige, am besten entsprechen könne.

Wo man aus sich heraus handelt – aus eigener Initiative -, die Wirkungen seiner Handlungsweise im Voraus auf das Gründlichste erwägen.

Man nennt das auch „die richtige Tat“.

Rudolf Steiner

Manchmal lohnt es sich, einen Turm zu besteigen, um so wie Christoph es getan hat Hamburg von oben anzuschauen.

Montags-Nachdenk-Input

Am Wochenende startete an der Akademie Vaihingen der Intensivkurs für die angehenden Heilpraktiker für Psychotherapie. Wir sind eine wunderbare Gruppe Menschen, die sich das umfangreiche Stoffgebiet erarbeiten werden. Das erste Wochenende ist immer etwas Besonderes: Welche Menschen werden sich in dieser Gruppe zusammenfinden? Welche Themen bringen sie mit und lassen sie in genau dieser Konstellation zusammenkommen? Ich freue mich, dass das erste Wochenende bereits begleitet war von sehr intensiven Begegnungen, das ist selten und ein Geschenk.

Rudolf Steiner hat mit seinen Wochentagssprüchen eine gute Aufgabe gegeben. Den Montagsgedanken mag ich besonders. Einfach mal die Klappe halten ist sehr entspannend. Sich Gedanken machen, ob das, was gesagt wird, wirklich wichtig ist. Wir bemerken, wenn wir einen Tag in der Woche auf so etwas achten, wie viel Geblubber in der Welt ist.

Otto Scharmer nennt das Downloaden: Man benutzt oder besser gesagt missbraucht sein Gegenüber (Gesprächspartner kann man das dann wohl kaum mehr nennen), um seinen eigenen Quark loszuwerden. Es geht nicht um das, was mir der andere Mensch sagt oder mitteilt, sondern darum, dass ich sagen kann, was mir wichtig ist. Oft fällt uns das nicht mal auf, wenn jeder am anderen vorbeischwätzt, weil das so weit verbreitet ist. Doch hat man so eine spannende Übung am Start, sticht einem ein solches Verhalten in einer ganz neuen Weise ins Auge.

Wir bemerken, dass wir reden, obwohl wir lauschen sollten. Dass der Inhalt des Gesagten bedeutungslos für das Gegenüber ist und besser nicht hätte gesagt werden sollen oder müssen. Wie oft wir verletzend sprechen oder die drei Siebe des Sokrates (ist es gut, ist es wahr, ist es notwendig) nicht berücksichtigen, wenn wir Gerüchte weitertragen oder nur über jemanden ablästern.

Die Wochentagsgedanken folgen dem buddhistischen achtfachen Pfad. Für diese Woche habe ich mir vorgenommen, euch jeden Tag den entsprechenden Gedanken mitzuteilen und ihr könnt für euch gern schauen und erforschen, ob sich dadurch etwas an eurem Tag ändert, wenn ihr einen solchen Gedankenmit hineinnehmt.

Allen einen gelingenden Start in eine neue Woche. Habt es fein heute!

Das Foto von 2017 zeigt den Seminarraum, in dem wir am Wochenende –  unter anderen Abstandsbedingungen – Kurs hatten und sich Menschen neu begegnet sind, die jetzt einen gemeinsamen Lernweg miteinander beschreiten.

Über das Reden

Montag

Das Reden. Nur was Sinn und Bedeutung hat, soll von den Lippen desjenigen kommen, der eine höhere Entwicklung anstrebt. Alles Reden um des Redens willen – zum Beispiel zum Zeitvertreib – ist in diesem Sinne schädlich.

Die gewöhnliche Art der Unterhaltung, wo alles bunt durcheinander geredet wird, soll vermieden werden; dabei darf man sich nicht etwas ausschließen vom Verkehr mit seinen Mitmenschen. Gerade im Verkehr soll das Reden nach und nach zur Bedeutsamkeit sich entwickeln. Man steht jedem Rede und Antwort, doch gedankenvoll, nach jeder Richtung hin überlegt. Niemals ohne Grund reden! Gerne schweigen. Man versuche, nicht zu viel und nicht zu wenig Worte zu machen. Zuerst ruhig hinhören und dann verarbeiten.

Man heißt diese Übung auch: „das richtige Wort“.

Das blaue Fenster in der Akademie Vaihingen

Wochenend-Nachdenk-Input

 

Das Ergebenheitsgebet, das Rudolf Steiner zugeschrieben wird, ist ein Text, den ich gern und oft zur Hand nehme. Es enthält eine klare Handlungsanweisung („den Willen schulen“) und zeigt auf, wie wir im Chaos des Lebens standhaft bleiben können: Indem wir uns bewusst machen, dass wir keine Daseinssicherung haben. Nichts ist beständig, stets wandelt sich alles. Sicherheiten – Fehlanzeige. Sicher ist, dass alles, was lebt stirbt und dass sich eben alles stets wandelt, mehr Daseinssicherung gibt es nicht. Das Leben ist ein Freeclimbing-Programm, wenn man so will. Es gibt keinen Probelauf, das Leben ist direkt „live und in Farbe“.

Manchmal fällt mir auf, dass die Menschen leben, als würden sie auf etwas Bestimmtes warten. Den richtigen Job. Den passenden Partner. Das perfekte Kind. Das Mittagessen. Das eine Ereignis, welches das gesamte Leben umkrempelt. Godot ist sicherer. Natürlich kann Abwarten eine gute Entscheidung sein. Wer im Frühling auf den Apfelbaum sauer ist, weil nicht über Nacht aus Blüten Früchte werden, hat schlechte Karten. Oft ist es so, dass wir in unguten Lebenslagen feststecken vor lauter Angst, eine falsche Entscheidung zu treffen.

Gestern sagte mir eine Klientin, dass sie von der Unverbindlichkeit der Menschen sehr belastet wird. Sie arbeitet in einem Kindergarten. Sie berichtete, dass Zusagen für einen Platz häufig so spät getroffen werden, wenn es für die Einrichtung nicht mehr machbar ist, den abgesagten Platz zu belegen. Es wird sich überall angemeldet, um überall ein Eisen im Feuer zu haben. Verbindlichkeit ist deshalb schwer, weil wir dann eine Entscheidung zu treffen haben. Für etwas bedeutet gegen etwas anderes. Was, wenn das besser gewesen wäre?

Institutionen, Schulen, Firmen leiden massiv unter dieser Unverbindlichkeit. Die Menschen erwarten ein breites Angebot. Das muss geplant werden. Wenn sich keiner verbindlich anmeldet, müssen Kurse, die teilweise Jahre vorher eingetaktet werden, weil Dozenten nicht allzeit verfügbar sind, abgesagt werden. Dadurch kommt es zu so seltsamen Erscheinungen, dass die Interessenten einen Tag davor anrufen, heftig reagieren und sich beschweren, warum das abgesagt wurde, wo sie sich doch so dafür interessieren und just jetzt „Bock drauf haben“.

Verbindlichkeit bedeutet, zu seinem Wort zu stehen. Das haben wir verlernt. Wir stehen nicht mehr zu unserem Wort, weil wir Zusagen unverbindlich gestalten wollen, um Entscheidungsfreiheiten offen zu halten. Damit haben wir oft leider nur belegt, dass wir nichts von dem allem wirklich wollen, denn würden wir das, könnten wir leicht  ein klares Ja oder ein klares Nein sagen. Nicht selten erwarten wir von anderen Menschen hingegen Klarheit und Entscheidungsfreude, um zu wissen, „woran wir sind“. Wir bewundern Menschen, die klar in ihrem Standing sind, die wissen, was sie wollen und was nicht und das auch rechtzeitig, offen und klar formulieren.

Vertrauen wir unserer inneren Stimme. Wenn sie Ja sagt und Kopf, Herz und Bauch das gut überlegt haben, darf das Ja auch wahrhaft sein oder das Nein, wenn dem nicht so ist. Rechtzeitig und deutlich. Dann werden wir nicht überfordert von einer Masse an Wahlmöglichkeiten, sondern suchen gezielt das heraus, was unsere Entwicklung voranbringt. Dann wächst das Vertrauen in uns, in andere und wir können unser Herz auch Größerem gegenüber offen sein.

Allen ein klares, wunderbares, gutes Wochenende voller Momente, in denen wir aus ganzem Herzen Ja und Nein sagen können.

 

Die Bartblume blüht. Sie läutet die Zeit der herbstblühenden Büsche bei uns im Garten ein.

Vertrauen lernen

Es gehört zu dem, was wir in dieser Zeit lernen müssen: Aus reinem Vertrauen leben, ohne jede Daseinssicherung, aus dem Vertrauen in die immer gegenwärtige Hilfe der geistigen Welt. Wahrhaftig, anders geht es heute nicht, wenn der Mut nicht sinken soll.

Auszug aus dem Rudolf Steiner zugeschriebenen Ergebenheitsgebet.

Manuela hat dieses feine Artischockenfoto gemacht. Herrliche Blüten!

Freitags-Nachdenk-Input

Sich selbst besiegen ist in Platons Augen der beste Sieg. Manche Menschen besiegen sich sehr oft selbst und es ist alles, aber kein Sieg, weil es ein Kampf ist, in dem sie sich selbst verlieren können. Ich vermute stark, dass Platon nicht an solche Krankheitsbilder gedacht hat, sondern hinter seiner Aussage etwas anderes steht, nämlich den Sieg über die vielen kleinen Schrulligkeiten, denen wir so gern unterliegen wider besseren Wissens.

Im Praxisalltag habe ich es oft mit dem Thema zu tun, dass Menschen sehr wohl wissen, was in Situationen das Richtige wäre, es aber nicht tun. Die Frage beschäftigt mich seit meiner Kindheit, warum Menschen tun, was sie tun. Als ich neun Jahre alt war, ging Nick Uts Bild des kleinen Mädchens Phan Thi Kim Phuc um die Welt, die als kleines Mädchen im Vietnamkrieg vor den Napalmbomben mit verbrannter Haut flüchtete. Das Mädchen war damals etwa so alt wie ich. Während ich das Bild betrachtete, hatte ich zu essen, ein zu Hause und Krieg war etwas weit Entferntes. Später bemerkte ich, dass mich gerade einmal 18 Jahre vom Ende des Zweiten Weltkriegs trennten. Dieses Foto war der Moment, in dem mir meine Lebensfrage klar wurde – was treibt Menschen an, Dinge zu tun oder eben nicht zu tun? Was ist der Grund, weshalb Menschen andere Menschen schlimmer misshandeln als jedes andere Geschöpf auf dem Planeten?

Während der Schulzeit war die Hoch-Zeit des RAF-Terrorismus. Wo immer man hinging, hingen die Fahndungsplakate der gesuchten Terroristen. Leichter Schauder überrieselte uns, wenn wir auf dem Weg zum Weltspartag mit unseren bunten Spardosen zuerst an der Banktür mit den Fotos konfrontiert wurden. Entführte Menschen, Hochsicherheitstrakt, Kalter Krieg, Lagerbildung, Atomdrohung und latente Kriegsangst. Ich vertiefte meine Fragen und hatte das Glück, durch ein Stipendium eingeladen zu werden in ein Seminar, in dem wir den Film „Animal Farm“ sahen und uns mit Rhetorik befassten. Warum überzeugen Menschen andere Menschen durch die Art ihrer Reden? Was entfacht so einen Sog, dass kluge, erwachsene Menschen aufstehen und Dinge gutheißen, die das nicht sind? Wir analysierten viele Reden und erkannten, dass Sprache Macht ist.

Für das Geschichtsstudium entschied ich mich, weil ich der Frage nachgehen wollte, was es mit den Gräueln des Zweiten Weltkriegs auf sich hatte. Ich sah, dass sie sich nahtlos an viele andere Gräueltaten in der Menschheitsgeschichte anschließen. In diesen Jahren zweifelte ich sehr stark daran, ob es überhaupt Sinn macht, in einer Welt zu leben, in der Menschen immer wieder so agieren, wie ich es gelernt, studiert, beobachtet hatte.

Auf der anderen Seite sammelte ich schon im Grundschulalter Zitate. Erst in Heften, dann auf Karteikarten. Zitate, die die andere Seite des Menschen zeigten – seine beispiellose Kraft, seine Talente, Fähigkeiten, sein Humor, die Schönheit, die Kraft der Liebe. Ein sehr anderes Bild vom Menschen sah ich, wenn Menschen Dinge wagten, die keiner zuvor gemacht hatte wie die Herzverpflanzung durch Christiaan Barnard oder mein erstes wahrhaft erinnertes Fernseherlebnis wegen der ungewöhnlichen Uhrzeit, die Mondlandung. Menschen konnten durch den Weltraum fliegen, Sauerbruch hatte die Unterdruckkammer erfunden, Herzen waren verpflanzbar. So vieles schien möglich. Auch das gab es, diese lichte Seite.

In meiner Arbeit heute erlebe ich alle Seiten des Menschseins. Die stillen Kämpfer für das Gute, deren eigener Schatten sie aus der Bahn werfen kann. Die zynischen Lebensverachter, in deren Herzen zu ihrem Leidwesen ein mitfühlender Teil lebt, der stets agiert, wenn sie nicht damit rechnen. Die Menschen mit Bergen von Leid, die dastehen und aushalten, für andere noch Ohren und Hände haben. Die mit dem Überfluss, die daran ersticken, dass sie keine Ziele mehr haben, weil sie alles besitzen. Die mit der Frage nach dem Sinn, den Zweifeln, den Alltags- und Menschheitssorgen und der Angst.

Letztlich entscheidet immer nur unser Umgang mit den Fragen des Lebens darüber, ob wir unser Leben als lebenswert, sinnvoll, stimmig erachten oder nicht. Ebenso kommt es darauf an, welche Entscheidungen wir treffen anhand der Fragestellung Platons – entscheiden wir uns für das, was richtig ist und welche Instanz in uns weiß das? Viktor Frankl erkannte: „Zwischen Reiz und Reaktion liegt ein Raum. In diesem Raum liegt unsere Macht zur Wahl unserer Reaktion. In unserer Reaktion liegen unsere Entwicklung und unsere Freiheit.“

Allen einen wunderbaren Venustag voller kleiner und großer Siege über den Teil in uns, den wir so gern verniedlichend „inneren Schweinehund“ nennen. Er ist unser tägliches Übefeld auf dem Weg zur Menschwerdung.

 

Leuchtende Lampionblumen in bunten Gießkannen hat Sigrid mit ihrer Kamera entdeckt. Herzlichen Dank für die tollen Farben!

Der beste Sieg

Auch hier, Fremder, ist sich selbst zu besiegen von allen Siegen der erste und der beste.

Platon, in Nomoi, 1. Buch 626e

Sigrids Foto lässt den Herbst erahnen. Dankeschön!

Donnerstags-Nachdenk-Input

Platons Zitat finde ich bedenkenswert. Im Werk „Phaidon“ geht es um die Frage, was die Seele sei. Platon schildert ein Gespräch zwischen dem kurz vor seiner Hinrichtung stehenden Sokrates und verschiedenen Menschen. Sokrates hat erkannt, dass das Leben im menschlichen Körper und der Körper selbst nicht alles sind, sondern der Körper sogar der Hemmschuh sein kann für eine gute Entwicklung der Seele. In dem Werk geht es um die Frage, ob die Seele unsterblich sei.

Warum ich das Zitat gewählt habe? Wenn man das alles als Gedanke annimmt, wird hier nicht mehr und nicht weniger gefordert als das Bemühen, ein gutes und gerechtes Leben zu führen, um sich von Negativem zu befreien. Dieser Gedanke gefällt mir gut, denn ich glaube, dass wir Menschen alle in unserem Herzen eine tiefe Sehnsucht nach dem Guten, dem Wahren und dem Schönen in uns tragen. Doch schon im ersten Lebensjahrsiebt, dem, in dem das Gute, Wahre und Schöne im Kind grundgelegt werden sollte, erfahren wir nicht immer viel davon. Es wird schlichtweg nicht vorgelebt, weil die Not-Wendigkeit nicht mehr im Bewusstsein der Menschen lebt, nur die Sehnsucht danach, die wir dann mit vielem füllen, was unser Bewusstsein abschießt, anstatt uns hierher zu holen.

In diesem Jahr fällt mir das immer mehr auf. Nach der Hitze kommt der Wind. Erneut steht eine Veränderung an, wenn wir von Sommer auf Herbst switchen, seit einiger Zeit mit Licht aufstehen, abends die Dunkelheit früh kommt und nun die Winde wegblasen, was durch die Sommerhitze keine Kraft mehr hat. So ist es auch mit den Menschen. Die Tage bis Monatsende sind mit einer besonderen Energie gefüllt, vieles möchte losgelassen werden. Weggerissen wird, was sich nicht stärken kann für den Winter. Eine nicht immer einfache Vorstellung. Deshalb finde ich, ist dieses Jahr ein einziger Appell an die eigene Entwicklung, um zu Stärke, Kraft und Ruhe im Inneren zu finden.

Unsere Seele – so schwierig diese Vorstellung sein mag – kann, wenn wir Platon folgen, nicht „reingewaschen“ werden durch den Tod, sondern nimmt wie eine Art Prägung mit, was wir an Gutem und Negativem getan haben. Ich finde diese Vorstellung hilfreich, weil sie uns immer wieder ermöglicht, darüber nachzudenken, WIE wir leben möchten. Keiner von uns ist fehlerfrei, nur gut oder nur schlecht, wir haben alle alle Anlagen in uns. Wir entscheiden zu jeder Sekunde unseres Lebens, wie wir leben wollen. Eine innere Stimme in uns weiß immer, was das Richtige ist, wir folgen ihr nur zu unserem eigenen Leidwesen oft genug nicht und handeln zutiefst gegen das, was in uns als Wahrheit lebt.

Vielleicht lassen wir mit dem Wind einige Vorstellungen davonwehen. Den Perfektionismus fliegen lassen kann befreiend sein. Sorgen und Nöte dürfen mit weggeblasen werden, damit Kopf, Herz und Hand frei werden, um sich neu auf den Boden der Tatsachen zu stellen, ins Leben. Wir sind in diesem Jahr alle viele Wege der Irrungen und Wirrungen gegangen, als wären wir schlafgewandelt. Es ist nun Zeit, aufzuwachen und sich für die Dinge zu entscheiden, die man als richtig und wesentlich erachtet. In dem Bewusstsein stets, dass meine eigene Freiheit immer dort endet, wo die eines anderen beginnt. Ich beziehe meine Aussagen sicher nicht auf aktuelles Pandemiegeschehen, falls das jemand annehmen sollte. Mein Fokus ist weiter gestellt. Sondern darauf, dass wir in jedem Moment viele Entscheidungen aller Größenordnungen (von der Wahl der Nahrung bis zum Kündigen einer Arbeitsstelle und vieles mehr) in unserem Leben treffen und wir damit anfangen könnten, die Entscheidungen nach unserem inneren Kompass auszurichten. Sollten wir bislang den Erwartungen anderer gefolgt sein – angefangen von den Eltern über Partner und Menschen, denen wir Einfluss auf unser Leben gewähren – wird es in diesem Wandlungsjahr Zeit, das Leben in die eigene Hand zu nehmen. Wer bin ich? Wer möchte ich sein? Was wäre die liebevollste und beste Version meiner selbst? Was trennt mich von dieser Version? Wann nähere ich mich mir an?

Es geht nicht um Egozentrik, um Selbstverliebtheit oder das leicht überstrapazierte Wort Selbstfürsorge, das für die meisten darin besteht, sich schlichtweg alles zu gönnen, wonach das Ego giert (also das Gegenteil einer Selbstfürsorge ist). Es geht darum, bei sich auf gute Weise anzukommen. Rauszutreten aus dem Jammermodus, dem Beklagen verpasster Chancen und Ähnlichem. In der Zeit, die wir oft mit Lamentieren und Selbstmitleid (eine hohe Form der Verachtung übrigens) verbringen, laufen viele Chancen direkt an uns vorbei, bereit, ergriffen zu werden. Machen wir etwas für das Seelenheil, wenden uns weg von dem, was uns auf schlechte Wege führt und treten wir mutig aus dem Trott heraus. Der Wind darf mächtig unter Flügel gehen und Auftrieb geben. Es müssen nicht immer alle „durch den Wind sein“. Wir hier oben auf der Sturmhöhe schätzen den Wind (nicht immer), weil er uns zeigt, welche Kraft die Natur hat. Das erzeugt automatisch Respekt vor dem Leben, das einmalig ist und dem wir unseren eigenen Stempel aufprägen sollten anstatt zu versuchen, eine Kopie von etwas oder jemand zu werden.

Allen einen sehr kraftvollen Jupitertag mit dem Entdecken von neuem Gutem, Wahrem und Schönem im Leben.

Steffen hat von einer Chinareise viele Fotos mit Toren mitgebracht. Das ist eines davon, für das ich herzlich Danke sage.

Von der Seele

Aber das, ihr Männer, sagte er, ist wert, bedacht zu werden, dass die Seele, wenn sie unsterblich ist, auch der Fürsorge bedarf nicht nur für die Zeit, die wir das Leben nennen, sondern für die ganze Zeit; und die Gefahr müsste nun erst recht furchtbar erscheinen, wenn jemand sie sorglos behandelte. Denn wenn der Tod eine Trennung von allem wäre, dann wäre es ein Glücksfall für die Schlechten, wenn sie gestorben sind, von ihrem Körper getrennt zu sein und zugleich auch – mit der Seele – von ihrer Schlechtigkeit. Nun aber, da sie sich ja als unsterblich zeigt, kann es wohl für sie keine andere Befreiung vom Schlechten geben und keine Rettung, außer, dass sie so gut und so vernünftig wird wie möglich.

Platon, in: Phaidon 107 c,d

Steffen hat das Himmelsfoto gemacht, Danke!

Mittwochs-Nachdenk-Input

Der Glaube, meint Marie von Ebner-Eschenbach, der Berge versetzen kann, sei der an die eigene Kraft. Wie viele Menschen zweifeln an ihrer eigenen Kraft! Wie viele unterschätzen ihre eigene Handlungsfähigkeit, ihre Wirksamkeit. Oft höre ich: „Da kann ich doch gar nichts machen/ausrichten“, „Was sollen denn meine kleinen Dinge schon nutzen!“ Dahinter stecken zum einen die Angst, dass man selbst keine Wirksamkeit haben könnte und zum anderen die Angst vor Verantwortung. Wenn ich nämlich durch meine Handlungen Folgen generiere, könnte das auch für mich negativ ausgehen. Ja und? Viele handeln nicht, weil sie den Berg sehen, aber nicht den ersten Schritt, der für jede Besteigung notwendig ist. Und danach den zweiten. Sie sehen die ganze lange Straße, vor der Beppo Straßenkehrer in Michael Endes wunderbarem Buch „Momo“ warnt. Wer nur die ganze Arbeit vor sich sieht, gerät schnell in Hatz und Panik, doch wer Schritt für Schritt, Atemzug für Atemzug und bei Beppo „Besenstrich für Besenstrich“ vorangeht, hat mit einem Mal die ganze Arbeit geschafft.

Wir verweigern das Tun, weil wir glauben, die Aufgabe sei zu groß. Damit drücken wir uns gewaltig vor der Verantwortung und meinen uns hinter „das muss die Politik, die da oben, der liebe Gott regeln“ verstecken zu dürfen. Nein, dürfen wir nicht. Jeder ist zu jedem Moment für sein Denken, Handeln und Wollen zuständig und jeder hat Wirksamkeit. Mit unseren Gedanken erschaffen wir die Realität, in der wir leben. Alles, was nach „ich bin“ folgt, wird, denn das ist ein sehr mächtiges Schöpfungsmantram.

Haben wir weniger Bedenken, zu handeln. Wir helfen nicht, weil wir nicht sicher sind, ob wir noch fit genug in erster Hilfe sind. Entweder empfiehlt sich dann ein Auffrischungskurs oder wir helfen einfach, denn wie wäre es für uns an Stelle des anderen, wenn jemand da ist, aber nichts tut? Was wollen wir denn falsch machen? Ich glaube, dass wir alle wesentlich wirksamer und fähiger sind, als wir uns zutrauen.

Vieles liegt auch an unserer Erziehung. Wir werden von klein auf darauf getrimmt, dass Fehler tödlich sind, sie werden rot angestrichen und aufsummiert, daraus ergibt sich die Note und damit – so das Denken vieler Menschen – ihr Wert für die Welt. Es wird Zeit für eine Scheiterkultur. Wenn wir von der Annahme ausgehen, dass uns unsere eigene Zukunft zu jeder Sekunde unseres Lebens freundlich die Hand reicht, die wir nur ergreifen müssen, wäre doch die spannende Frage in jedem Augenblick: Was für ein Experiment wage ich jetzt? Das gesamte Leben ist eine Abfolge mehr oder weniger spannender Experimente, denn ehrlich gesagt hat keiner von uns die finale Ahnung, wie Leben geht, dass es gelingt. Wann wagen wir also das Experiment, in die beste Version von uns selbst hineinzuwachsen und zu bemerken, dass wir häufiger über die Maulwurfshügel unserer eigenen Begrenzungen im eigenen Kopf gestolpert sind als über die Berge draußen?

Allen einen sehr beweglichen Merkurtag.

Theresa war in Eisenach auf den Spuren von Bach, Telemann und Luther und hat uns dieses Foto mitgebracht. Danke!

Glaube versetzt Berge

Wenn es einen Glauben gibt, der Berge versetzen kann, so ist es der Glaube an die eigene Kraft.

Marie von Ebner-Eschenbach

Annemarie hat an sich geglaubt und ist in den Ferien auf manchen Berg gestiegen und hat tolle Fotos mitgebracht. Vielen lieben Dank!