Memento mori

Nach zwei Wochen Zwangspause, weil ich wegen der Kehlkopfentzündung nicht sprechen konnte, ist der normale Praxisalltag wieder angelaufen. Gestern Abend, als ich den Tag wie immer Revue passieren ließ, ist mir Schopenhauers Aussage, dass jeder Tag ein kleines Leben sei, in den Sinn gekommen und wie wahr ich das gestern empfand! Was jeden Tag vor mir ausgebreitet ist, ist eine Menge Leben in vielen Facetten. Von Trennungsthema über massive Beziehungskonflikte zu totaler Prüfungsangst, mal eher psychische, mal eher psychosomatische oder einfach Alltagssorgen-Themen und am Abend intensiv die Fragen nach Tod und Sterben, auf die sich jemand jetzt einlassen kann und muss, weil die Zeit dafür da ist. Die Benachrichtigung des Todes eines lieben Menschen im Briefkasten tat ihr Übriges.

Da saßen wir, die Klientin und ich, in der herabsinkenden Dämmerung, ohne Licht, nur mit einer Kerze und sprachen über die tiefe Angst vor dem Sterben, die oft eine tiefe Angst vor ungelebtem Leben ist. Unsere Sorge gilt nicht dem Tod, das ist uns bewusst als Fakt, aber die Angst, unbegleitet, schmerzvoll, allein und unerfüllt zu sterben. Schaue ich in die Welt, leben wir oft alle so, als würde es den Tod nicht geben, als wäre unser Leben oft ein Davonrennen vor etwas, was so an uns angebunden ist, dass es stets direkt neben uns geht. Alte Schriften kennen viele Geschichten dazu von Menschen, die versuchen, durch Flucht dem Tod zu entkommen und als sie abends ermattet in fremder Stadt ankommen, beschwert sich der Tod, warum der Mensch es ihm so schwer gemacht hat, so weit zu reisen.

In alten Zeiten gab es den Danse macabre, den Totentanz, der in Bildern erzählte, dass der Tod zu Papst und Kaiser ebenso kommt wie zum Bettelmann. In der Antike existierte das Ritual des Memento mori, „Bedenke, dass du sterblich bist“. Einem siegreichen Feldherrn folgte beim Triumphzug ein Sklave, der dem Feldherrn unter anderem stets das „Memento mori“ einsagte. In Psalm 90 ist zu finden: „Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.“ „Alles ist eitel“, steht im Buch Kohelet im Alten Testament, gemeint ist damit „vergänglich“ oder bei Luther „nichtig“, Grundgedanke von Vanitas, der Vergänglichkeit.

„Das Bewusstsein der Vergänglichkeit macht uns klar, dass wir jeden kostbaren Moment nutzen müssen“ – diese Aussage wird dem Dalai Lama zugeschrieben. Nutzen wir also unsere Momente, carpe diem. Frage: Wofür möchtest du heute deine Lebenszeit einsetzen? Sind es nichtige Dinge, denen du aus Angst folgst? Bist du auf der Spur deines Lebens, tust du das, was dir entspricht? Falls nein: Bedenke das Ende. Was willst du keinesfalls bereuen? Was ist dir so wichtig, dass es vorrangig sein sollte?

Allen einen beweglichen und bewegenden Merkurtag.

 

Steffis Foto hat mich zu diesen Frühherbstgedanken inspiriert und die berührenden Gespräche gestern in der Praxis. Manchmal erreicht man Tiefen, die lebenslang als kostbarer Schatz im Herzen bleiben dürfen. Danke.

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