Monthly Archives: Oktober 2020

Lebenssturmträume

Oktobersturm

Schwankende Bäume
im Abendrot –
Lebenssturmträume
vor purpurnem Tod –

Blättergeplauder –
wirbelnder Hauf –
nachtkalte Schauder
rauschen herauf.

Christian Morgenstern, 1871–1914

Das stürmische Wochenende malt die Wälder bunt. Danke an Steffi für das Foto!

Es gibt eine Zeit …

Zeiten

Es gibt eine Zeit zum Arbeiten und eine Zeit, um die Hände ruhen zu lassen.

Es gibt eine Zeit zum Feiern und eine, in der wir uns daran erinnern.

Es gibt eine Zeit zum Trauern und eine, in der die Trauer in unser Herz eingewebt wurde.

Es gibt eine Zeit zum Lernen und eine, um das Gelernte anzuwenden.

Es gibt eine Zeit zum Essen und eine, um es zu verdauen.

Es gibt eine Zeit für Sonne und eine für Regen.

Es gibt eine Zeit für Licht und eine für Dunkelheit.

Es gibt eine Zeit der Angst und eine des inneren Friedens.

Es gibt eine Zeit für die Kälte des Winters und eine für die Hitze des Sommers.

Es gibt eine Zeit des Werdens und Reifens und eine des Versamens und Vergehens.

Es gibt eine Zeit, da wurzeln wir ins Leben ein und eine, da lösen wir langsam die Wurzeln.

Alles hat seine Zeit. Alles braucht seine Zeit. Nichts kommt vor der Zeit.

Das kann helfen, es kann auch traurig machen. Nichts bleibt, wie es ist. Trost und Herausforderung zugleich.

Lebe deine Zeit, die jetzt gerade ist. Sei. Und lass dich mitnehmen, wenn sich die Zeiten verändern. Bleib offen und gestaltungsbereit und versuche nie, etwas festzuhalten. Das Rad der Zeit nimmt uns alle mit. Was bleibt, ist das, was du an Liebe und Licht in die Welt gestellt hast.

Einen guten Start in die neue Woche mit Zeit für alles, was gerade ansteht, wünsche ich euch von Herzen.

 

Steffi hat diese herrlichen Herbstfarben am Wochenende entdeckt und schenkt uns dieses herrliche Bild. Dankeschön dafür.

 

PS Wer zur Glückswerkstatt am Montag, 19.30 Uhr kommen möchte, möge sich bitte bis Montag 12 Uhr anmelden. DANKE!

Abendstimmung am See

Abend

Der Abend wechselt langsam die Gewänder,

die ihm ein Rand von alten Bäumen hält;

du schaust: und von dir scheiden sich die Länder,

ein himmelfahrendes und eins, das fällt;

und lassen dich, zu keinem ganz gehörend,

nicht ganz so dunkel wie das Haus, das schweigt,

nicht ganz so sicher Ewiges beschwörend

wie das, was Stern wird jede Nacht und steigt –

und lassen dir (unsäglich zu entwirrn)

dein Leben bang und riesenhaft und reifend,

so dass es, bald begrenzt und bald begreifend,

abwechselnd Stein in dir wird und Gestirn.

Rainer Maria Rilke

Das wunderschöne Abendfoto hat Stephanie gemacht. Danke dir!

Grenzen sprengen

Schlangen häuten sich, wenn sie wachsen. Bei Menschen dehnt sich die Haut. Vielleicht kommt das Sprichwort „Aus der Haut fahren“ vom Häuten mancher Tiere. Wie oft würden wir gern aus unserer Haut fahren, weil sie uns begrenzen und einengen kann. Da wird uns etwas zu eng, wir wachsen aus etwas heraus und spüren, dass das Alte unflexibel macht und wir nun Grenzen sprengen müssen.

Wir haben einige Grenzen durch den Körper. Die äußere Umweltgrenze bildet die Haut. Sie schützt uns gegen Einflüsse von außen und „hält alles zusammen“. Die zweite Grenze ist die Lunge, denn mit diesem Organ stehen wir ebenfalls in einem spannenden Austausch mit unserer Umwelt. Ich atme ein, was jemand anderes ausatmet und umgekehrt, so verbinden sich die Menschen und wir nehmen etwas vom anderen auf. Das dritte Grenzorgan ist der Darm, der die von außen zugeführte Nahrung verdauen und umwandeln soll in Aufbaukräfte des Organismus.

Wenn Menschen mit ihrer Grenze ein Thema haben, kann es sein, dass Haut, Lunge oder Darm das Thema ausdrücken und uns wird das oft nicht bewusst, dass es um eine Grenzfrage im Leben gehen könnte. Wenn also jemand mit diesen Bereichen Schwierigkeiten hat, kann er sich einfach mal fragen, ob es eventuell um Grenzen, ihre Wahrung, Überschreitung oder Aufrechterhaltung gehen könnte. Vielleicht ist das ein Aspekt, der den nächsten Entwicklungsschritt möglich macht, bevor wir „aus der Haut fahren müssen“.

Allen ein feines Wochenende mit guten Grenzen und der Erkenntnis, dass wir auf unsere Grenzen gut achten dürfen, wenn wir gesund bleiben und uns wohl fühlen möchten.

 

Die Mammutbäume hat Theresa in Amerika fotografiert. Wenn wir überlegen, wie lange ein Baum braucht, um so groß zu werden und wie alt ein Baum werden kann, bleibt uns nur eines – Respekt vor der Natur.

Wechselphasen

Die Schlange, welche sich nicht häuten kann, geht zugrunde. Ebenso die Geister, welche man verhindert, ihre Meinungen zu wechseln; sie hören auf, Geist zu sein.

Friedrich Nietzsche, 1844 – 1900

Diese Schlange hatte also Häutungsglück und hinterließ die zu kleine Hauthülle, die Theresa auf dem Jakobsweg entdeckt hat.

Tag des älteren Menschen

Am 1. Oktober ist der Tag des älteren Menschen. Es ist seltsam genug, dass wir einen solchen Tag offenbar brauchen. Ältere Menschen sind in diesem Jahr in den Anfangswochen der Pandemie ein wenig mehr in den Fokus gerückt. Inzwischen sind viele wieder aus dem Bewusstsein verschwunden, hinter Heimmauern aufgeräumt und von unterbezahltem Personal versorgt, andere werden im Familienkreis gepflegt, weil ihre Familienmitglieder ihre eigene Arbeit zurückstecken, um diesen Dienst zu tun.

An wenigen Themen entzündet sich die soziale Entwicklung der Menschen mehr als am Umgang mit sehr jungen, alten, kranken und behinderten Menschen. Wir haben die frühe Kindheit ebenso wie Krankheit, Behinderung und das Alter aus dem Familiensystem outgesourct. Früher war klar, dass die jüngere Generation die ältere versorgt, die ihrerseits Gemüse geschnippelt und Enkel in den Schlaf gesungen hat, solange das möglich war. Heute leben wir separiert. Alle fein getrennt. Es fehlt den Kindern das Vorbild des Alters, das wichtige Lernen von alten Menschen und damit oft der Respekt vor dem Alter, der Erfahrung und Weisheit und der Anschauung körperlichen und geistigen Abbaus, der zum Leben dazugehört. Den älteren Menschen fehlt der Anschluss, das noch gebraucht werden nach Jahren des Berufs, das Angebundensein und das Loslassen können nach Jahrzehnten Fürsorge, um selbst versorgt zu werden.

Man kann lange diskutieren, ob Großfamilien vorteilhaft sind. Alternativen wie Wohngemeinschaften, die großfamilienähnlich strukturiert sind, gibt es, freiwillige Zusammenschlüsse mit der Möglichkeit, sich emotional wesentlich schmerzärmer zu trennen, wenn es nicht mehr passt. Man kann auch darüber diskutieren, ob Geld, das in Urlaub angelegt wird oder für den Drittfernseher eine bessere Investition ist als das, was man nicht verdient, weil man die Mutter pflegt, die Welt ist nicht mehr die von 1800. Menschen verwirklichen sich heute selbst und das ist in Ordnung so.

Wenn Mütter vielleicht sehr viel Zeit in die Erziehung und Bildung der Kinder gesteckt haben, was die Generation der jetzt zwischen 50 und 65 Jahre alten Frauen getan hat, und sie nur ein kleines Zeitfenster haben, um ihre eigene Rente aufzubessern, erleben sie oft, dass die Kinder kaum aus dem Haus sind und die Eltern Pflegefälle werden. Es gibt also wenig Raum zur Selbstverwirklichung, geschweige denn zur eigenen Altersvorsorge, diese Lücke werden wir in wenigen Jahren vermutlich schmerzlichst spüren Dass das die Jugend anders möchte, kann ich gut nachvollziehen.

Die jüngere Generation löst das anders, da ist klar: wir werden nicht pflegen. Die Kinder gehen in die Kita, wir gehen arbeiten und Eltern werden versorgt, das lässt sich alles irgendwie organisieren.

All diese Fragen sind nicht lösbare Konflikte. Es sind ethisch-moralische Fragestellungen und hängen mit dem zusammen, was und wie die Welt gerade funktioniert. Eine heutige Frau mit Abitur, Studium und Karriere mit 30 Jahren wird ihren Weg nicht massiv verändern wollen oder können, nur weil im Familiensystem Hilfe benötigt wird. Sie lebt mit der Mehrfachbelastung anders als die Generationen davor. Sie wurde freier erzogen, ihr Ding zu machen. Die Senioren um die 80 hingegen sind aufgewachsen mit dem Vorkriegsmodell: Pflegen bis zum Tod daheim, ja kein Heim!

Es sind unlösbare Fragen, die jede Familie nur für sich selbst lösen und entscheiden kann. Viel, sehr viel Leid entsteht durch enttäuschte und eventuell nicht gerechtfertigte Erwartungen der Älteren und durch Forderungen an die Jüngeren. Viele Jüngere setzen sich für Oma und Opa ein und gestalten Arbeitszeiten flexibler, aber auch sie können nicht 24 Stunden auf den dementen Opa aufpassen, der aufgrund der Erkrankung nachts um drei draußen herumirrt, weil er es für Mittag hält.

Der Tag der älteren Menschen möge dazu dienen, dass wir die Einsamkeit der Menschen respektieren. Ihren Wunsch nach Teilhabe am normalen Alltagsleben, das es heute aber leider nicht mehr gibt, tagsüber ist kaum mehr irgendwo jemand zuhause. Er möge dazu dienen, dass wir das Alter wieder wertschätzen, die Erfahrung, oft Weisheit, die Gelassenheit der älteren Menschen. Wir brauchen sie, um zu lernen, wie man würdig altert, wie man Wissen und Weisheit erwirbt. Wir brauchen alle Menschen. Unterstützen wir lieber die Modelle, die Familien finden können, um das für sie Beste für die ganz Jungen und die Älteren umzusetzen, anstatt hier auszugrenzen und zu werten.

Alter ist oft beschwerlich, manchmal wunderbar. Es ist ein Prozess, vor dem wir alle stehen wollen und es dann doch nicht so haben wollen, wenn es soweit ist. Machen wir uns bewusst: Gesellschaft umfasst alle. Nicht nur die Arbeitenden, sondern auch die, die erst hineinwachsen werden und die, die ihren Anteil geleistet haben und nun berechtigt ausruhen dürfen. Seien wir achtsam, aufmerksam, hören wir hin und grenzen wir nicht aus. Unterstützen wir alle, die innerhalb von Familiensystemen pflegen möchten und ermöglichen wir so menschliches Handeln. Unterstützen wir alle, die in der Pflege sind, mit angemessenem Gehalt und investieren in Freude, Unterhaltung und bestmögliche Pflege für die Generation, die uns den Weg geebnet hat.

Allen einen respektvollen Tag voller Liebe für unsere älteren Menschen, die wir alle mal werden wollen.

Danke an Steffen für das herrliche Landschaftsfoto aus China.