Treibgut des Lebens

Ich staune, was alles angeschwemmt wird im Lauf des Tages im Lebensmeer. Anfragen, Terminwünsche, Klagen, Beschwerden, Bilder, Ungerechtigkeiten und Freudiges. Leid und Laster, Liebe und Leidenschaft in allen denkbaren Lebensvarianten. Quer durch alle Altersklassen geht es – vom Baby bis zum hochbetagten Senior, wo ich gefragt werde, was denn die Medikamente auf der Liste bedeuten (fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker? Nein, lieber mich). Ich bin jeden Tag in Kontakt mit allen Varianten des Menschseins, vom tiefsten Hass über Ängste bis hin zu „ich habs geschafft!“ bei Prüfungen oder „Wir heiraten!“ Ist das nicht großartig? Ich bin dran am Menschen und drin im Leben. Meine Rolle ist oft die des Beobachters, des Metaebenen-Bewohners, der mit Abstand anders sieht und manches auch perspektivisch wieder geraderücken kann, wo es vielleicht angebracht wäre.

Doch es ist nicht nur die Rolle, die meine Arbeit in der Praxis vorgibt, es gibt auch die Rolle des Dozenten, der Kurse hält und konzipiert. Skripten schreibt, updated. Der das Gemüse für das Mittagessen schnippelt und den Kaffee kocht. Der die Tische hinstellt, misst, dass Abstände korrekt sind, nach Kursende die Waschmaschine surren lässt, damit alles wieder frisch ist am nächsten Kurstag. Ich bestelle Brot und Kuchen, kaufe ein, mache sauber. Ich schreibe Werbetexte, sorge dafür, dass sie erscheinen und achte darauf, dass auf der Homepage immer die aktuellsten Sachen zu finden sind. Das Drucken von Skripten gehört ebenso zu meiner Arbeit wie das Schreiben derselben, das Falten von Mappen am ersten Kurstag und das Dekorieren der Arbeitsmaterialien auf den Schreibtischen. Ich koche den Tee, der in der Kanne ist.

Dann gibt es die Rolle der Verwaltung. Ich mache Aquise und sorge dafür, dass Kurse beworben und gefüllt sind oder entscheide, sie abzusagen, zu verlegen und sonstiges. Ich schreibe Verträge und Praxisrechnungen. Mit der Abwicklung am Ende, dem Überprüfen der Konten habe ich nichts mehr zu tun, worüber ich so sehr dankbar bin.

Es gibt die Rolle der Mutter, der Ehefrau, der Lernenden (wir machen immer irgendeine Ausbildung, damit wir bestens aufgestellt sind und zudem unser Gehirn permanent gefüttert wird und gar nicht auf die gruslige Idee kommt, Rost anzusetzen). Und es gibt die Rolle der Tochter und Schwester, was, je älter die Familienmitglieder werden, desto umfassender werden kann.

Vieles von unserer Arbeit ist unsichtbar. Wir machen sie, weil wir unsere Arbeit sehr lieben und freuen uns, wenn das wertgeschätzt wird. Es soll hier bei uns ein Ort sein, an dem Menschen gern sind. An dem sie wissen, dass sie sein dürfen, wie sie sind. Aufgehoben, behütet für die Zeit des Aufenthalts. Begleitet, gestützt und rechtzeitig losgelassen, damit sie in ihre eigene Kraft kommen.

So schweben wir gemeinsam mit vielen Tausenden von Menschen in diesen Tagen durch das Alltagschaos, erleben die Umbrüche sehr bewusst, hören viel, sehen viel, lesen viel, denken viel und doch lässt es sich auf wenig herunterbrechen, das essentiell ist: Respekt, Achtung, Wertschätzung. Liebe, Freundlichkeit, Höflichkeit und Rücksicht, Schätzen der Vielfalt der Meinungen und Menschen, Lebensformen und Standpunkte und lernen, lernen, lernen. Wir wissen, dass wir in einer Zeit leben, in der wir die einmalige Chance haben, die gesamte Welt auf gute neue Wege zu bringen. Wenn wir nie aus den Augen verlieren, dass das bedeutet: Im Fluss des Lebens sein, Gestalten in Freiheit, Lauschen mit Liebe, Lernen vom Fremden und nicht aufgeben, sich im Hass verlieren, die Energie für Nebenkriegsschauplätze vergeuden. Sein! Mit allem, was wir sind. Das ist das Thema. Egal, an welchem Platz wir stehen im Leben und welche Rollen wir ausfüllen. Die Rolle des werdenden Menschen ist unsere wichtigste.

Allen ein schönes Wochenende mit frischer Luft und den ersten Kastanien.

 

Steffen hat diesen magischen Abendhimmel in der Rhön mit der Kamera für uns alle gemalt. Danke!

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